Text 08

Mit Melancholie und Gesellschaft sind die beiden Pole abgesteckt, zwischen denen das Ganze hin und her fliegt. Das Ich und die anderen. Distanz und Nähe. Die Melancholie als dauerndes Wetterleuchten, vor deren Hintergrund die Gesellschaft ihre unfassbare Existenz durchführt. Der Titel entstand unbeeinflusst vom Lepeniesschen Buch. Ich kannte das gar nicht. Später hab ich es dann gelesen, und irgendwie passte es gut zusammen. Von Lepenies treffend beschrieben ist das Umschlagen von Melancholie in utopische Gesellschaftsentwürfe. Auch die Utopie aber ist heute ziemlich korrumpiert und vorbei. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Melancholie das Hauptprodukt dieser Gesellschaft ist, das, was am Ende wirklich produziert wird. Ob der Kapitalismus jetzt vorbei ist, man weiß es nicht. Aber irgendwas ist vorbei: Dann kommt die Melancholie. Im Zustand der Melancholie bin ich auch frei - auf eine Weise. Ich bin dann draußen. Aber vielleicht wollte ich ja eigentlich lieber drin sein. Man weiß ja nie, wo ein Atomkern jetzt gerade ist. Der Traum des Einzelnen ist ja einigermaßen deckungsgleich mit dem kollektiven Bewusstsein. Darum geht es. Melancholisch ist das Ich, der Einsame, das abgespaltene Atom der Gesellschaft. Und dann gibt es da das Wir, das Kollektiv. Doch, ich glaube total an Subjektivität. Und totaler noch an das Kollektiv. Ich möchte nicht gern der letzte Mensch sein. Das Phänomen der Trennung ist aber ein extrem starkes. Letztlich produziert es Melancholie. So richtig schön angenehm deprimiert sein. Wo ich hinsehe, findet Abtrennung statt. Überall Geheimnummern. Wettbewerb und Leistung, Produktaustausch, Partnerwechsel, neuer Trainer. Das ist ein Motiv, das unterwegs ist: das Glück des Letzten, des Einsamen, der Abtrennung. Es ist ja auch tatsächlich ein Glücks-zustand, allein zu sein, wenn es überall voll ist. Und darin dann die Sehnsucht nach dem Gegenteil von Alleinsein. Entscheiden kann man sich da nicht, das geht ineinander über. Die Rolle des Endverbrauchers ist eine Beleidigung schlechthin. Der Mechanismus der Marken beleidigt den Menschen. Aber es gibt kein Oben, keine Verschwörung hinter irgendwelchen getäfelten Türen, das ist ja völlig klar. Das ist ein selbststeuernder Prozess, wahrscheinlich schon ein evolutionärer. Ich frage mich, ob Selbstverwirklichung am Ende nicht ein anderes Wort ist für Depression. Woraus sollte dieses Selbst denn bestehen? Und die großen Kollektive, die es ja gab, die sind auch diskreditiert. Die Sehnsucht nach dem Wir wird umso größer, je weniger das Wir real stattfindet. Ich habe starke Zweifel am Konzept des Individualismus. Was soll Individualismus denn sein? Ist das nicht eine Geisteskrankheit? Das Ich ist die Geisteskrankheit. Die Vorstellung von Individualität ist ein Marketingtool des Systems. Der Individualist mit seinen Bedürfnissen, die doch irgendwo herkommen, ist der perfekte Teilnehmer am Warenkreislauf. Diese Konzentration auf sich, das Draußensein, das hat schon eine subversive Kraft. An den Höfen der absoluten Herrscher wurde dafür gesorgt, keine Melancholiker anzutreffen. Am Hofe des Kapitalismus sind sie eben auch nicht erwünscht. Man kann keinen Staat mit ihnen machen.

Über uns ziehen dralle Schiffe vorbei, als wären es Zeppeline. Wo wir sind, spielt keine Rolle, man könnte eigentlich überall sein. Die Liebe ist die Realität. Das ist der große Handlungszusammenhang. Das Panorama zeigt vor allem Liebe. Wo man hinblickt - überall Liebe. Das ist das, was bleibt. Der Rest mendelt sich weg. Die Schmerzen, die Wunden - letztendlich haben sie nichts als den einen Auftrag: zu verfliegen und zu verheilen. Da hilft die Musik. Elektropop, Deutschrock, Indieschlager, romantisches Liedermachertum. Weil der Stil nicht der Mensch ist, sondern Kleid der Gedanken.

So viel Sekunden hat mein Tag nicht, die ich bräuchte, um meine Neine zu sagen. Es ist ein unendlicher Widerstand darin enthalten. Kaputtmachen allerdings ist eine Form von Romantik. Selbst in den Siebzigern wollte man schon vor allem romantisch sein, nicht irgendetwas kaputtmachen. Aber das ist ja alles durchdekliniert, ist alles Vergangenheit, vorbei, abgehakt.

Ich habe da immer die Vorstellung, dass es einmal eine Zeit gab, in der die Welt irgendwie leer war. Die Masse wurde erst später erfunden.