Happenings: Die Kunst des radikalen Nebeneinanders
Seit einiger Zeit gibt es in New York eine neue, zunächst noch den Eingeweihten vorbehaltene Gattung von Schaustücken. Man hat diesen Ereignissen, die auf den ersten Blick wie eine Kreuzung aus Kunstausstellung und Theateraufführung wirken, den bescheidenen und leicht ironischen Namen "Happenings" gegeben. Sie fanden auf Dachböden, in kleinen Kunstgalerien, auf Hinterhöfen und in kleinen Theatern vor durchschnittlich dreißig bis hundert Zuschauern statt. Denen, die noch nie unter den Zuschauern waren, ein Happening beschreiben heißt zunächst bei dem verweilen, was Happenings nicht sind. Sie finden nicht auf einer Bühne im konventionellen Sinne statt, sondern in einer mit vielerlei Gegenständen vollgestopften Szenerie. In dieser Szenerie bewegt sich eine Reihe von Teilnehmern, die keine Schauspieler sind, und hantiert - begleitet (manchmal) von Worten, wortlosen Geräuschen, Musik, Blinklichtern und Gerüchen - antiphonal und gemeinsam mit bestimmten Objekten. Das Happening hat keine Handlung, wenngleich es eine Aktion oder vielmehr eine Kette von Aktionen und Vorgängen darstellt. Es meidet überdies das kontinuierliche rationale Gespräch, wenngleich Worte wie "Help!", "Voglio un bicchiere di aqua", "Love me", "Car", "One, two, three ..." in ihm vorkommen können. Die Sprache wird zunächst durch Disparität geläutert und verdichtet (es gibt nur die Sprache der Notwendigkeit) und dann durch Unwirksamkeit, durch Beziehungslosigkeit zwischen den Personen, die das Happening in Szene setzen, entfaltet.
Die Veranstalter der New Yorker Happenings freilich sind Happenings nicht nur New Yorker Phänomen; ähnliche Ereignisse, die völlig unabhängig voneinander inszeniert wurden, fanden, wie man hört, in Osaka, Stockholm, Köln, Mailand und Paris statt sind junge Leute zwischen Ende Zwanzig und Anfang Dreißig. Die meisten von ihnen sind Maler (Allan Kaprow, Jim Dine, Red Grooms, Robert Whitman, Claes Oldenburg, Al Hansen, George Brecht, Yoko Ono. Carolee Schneemann), einige Musiker (Dick Higgins, Philip Corner, LaMonte Young). Allan Kaprow, der Mann, der mehr als irgend jemand anders für die Begründung und Entwicklung dieser Kunstgattung verantwortlich ist, ist der einzige Akademiker unter ihnen; er lehrte früher Kunst und Kunstgeschichte in Rutgers und lehrt heute an der State University of New York in Long Island. Für Kaprow, einen Maler und (für ein Jahr) Schüler von John Cage, hat die Veranstaltung von Happenings seit 1957 die Malerei verdrängt; Happenings sind nach seinen Worten das, was aus seiner Malerei geworden ist. Aber für die Mehrzahl der anderen trifft dies nicht zu; sie arbeiten weiterhin als Maler oder Komponisten und produzieren darüber hinaus gelegentlich ein Happening oder fungieren als Darsteller in dem Happening eines Freundes.
Das erste öffentliche Happening war Kaprows Eighteen Happenings in Six Parts, das im Oktober 1959 zur Eröffnung der Reuben Gallery, zu deren Initiatoren er zählt, aufgeführt wurde. Für ein paar Jahre waren die Reuben Gallery, die Judson Gallery und später die Green Gallery die wesentlichen Schaukästen der New Yorker Happenings von Kaprow, Grooms, Dine, Whitman und anderen; in den letzten Jahren war Oldenburg der einzige, der eine Serie von Happenings veranstaltete; sie fanden in den drei winzigen Hinterzimmern seines "store" in der East Second Street statt. In den fünf Jahren, die seit den ersten öffentlichen Veranstaltungen von Happenings vergangen sind, ist die Gruppe über den ursprünglichen Kreis enger Freunde hinausgewachsen, und die einzelnen Mitglieder haben verschiedene Vorstellungen entwickelt; es gibt keine Definition dessen, was Happenings als Gattung sind, die für all jene, die heute solche Happeningsveranstalten, annehmbar wäre. Einige Happenings sind weniger, andere mehr mit Ereignissen vollgepackt; einige sind wild, andere witzig; einige erinnern an das Haiku, andere sind episch; einige sind vignettenhaft, andere mehr theatralisch. Dennoch ist es möglich, eine grundsätzliche Einheit in der Form aufzudecken und gewisse Schlüsse hinsichtlich des Bezuges der Happenings zu Malerei und Theater zu ziehen.
Der vielleicht auffälligste Zug des Happenings ist seine Behandlung (nur so kann man es nennen) des Publikums. Das Ereignis scheint darauf angelegt, das Publikum zu ärgern und zu beschimpfen. Es kann geschehen, daß die Darsteller das Publikum mit Wasser bespritzen oder Pennies und Reinigungsmittel, die wie Niespulver wirken, unter die Zuschauer werfen. Und es kann auch vorkommen, daß einer der Akteure einen ohrenbetäubenden Lärm auf einem Ölkanister. macht oder eine Acetylenfackel in Richtung auf die Zuschauer schenkt. Das Publikum kann in die Lage versetzt werden, unbequem in einem überfüllten Raum stehen oder um einen Platz auf Brettern kämpfen zu müssen, die über knöcheltiefen Wasserlachen liegen. Es wird keinerlei Versuch unternommen, dem Wunsch des Publikums, alles zu sehen, entgegenzukommen. Ja, der Erfüllung dieses Verlangens wird oft bewußt entgegengearbeitet, indem ein Teil der Vorgänge sich im Haltrdunkel abspielt oder verschiedene Dinge gleichzeitig in getrennten Räumen stattfinden. In Kaprows A Spring Happening, das im März 1961 in der Reuben Gallery stattfand, sperrte man die Zuschauer in ein langes, kastenartiges Gebilde, das wie ein Viehwagen aussah; in die hölzernen Wände dieses Gehäuses waren Gucklöcher gebohrt worden, und den Zuschauern blieb nichts anderes übrig als durch diese Löcher zu schauen, wenn sie sehen wollten, was draußen vorging; als das Happening vorüber war, fielen die Wände in sich zusammen, und das Publikum wurde von einem Menschen, der einen elektrischen Rasenmäher betätigte, hinausgetrieben. (Diese auf eine Schmähung hinauslaufende Einbeziehung des Publikums in den Vorgang scheint, in Ermangelung von etwas anderem, das dramatische Rückgrat des Happenings auszumachen. Wenn das Happening mehr den Charakter des reinen Schaustücks hat, und das Publikum ausschließlich in der Rolle des Zuschauers verharrt wie in Kaprows The Courtyard, das im November 1962 im Renaissance House stattfand, wirkt das Ereignis merklich weniger geschlossen und überzeugend.)
Ein anderer auffälliger Zug der Happenings ist die Art, wie in ihnen die Zeit behandelt wird. Die Dauer eines Happenings läßt sich nicht im voraus bestimmen; sie kann zwischen zehn und fünfundvierzig Minuten variieren; das durchschnittliche Happening dauert etwa eine halbe Stunde. Bei der erklecklichen Zahl dieser Veranstaltungen, die ich im Verlauf der beiden letzten Jahre erlebt habe, fiel mir auf, daß das Publikum der Happenings, ein treues, empfängliches und zumeist erfahrenes Publikum, häufig nicht weiß, wann das Happening zu Ende ist, und daher ausdrücklich weggeschickt werden muß. Die Tatsache, daß man unter den Zuschauern immer wieder denselben Gesichtern begegnet, läßt darauf schließen, daß nicht der Mangel an Vertrautheit mit der Form die Ursache dafür ist. Die Unvorhersehbarkeit der Dauer und des Inhalts jedes einzelnen Happenings ist wesentlich für seine Wirkung. Das ist deshalb so, weil das Happening keine Handlung, keine Story und daher auch kein Element der Spannung hat (das dann wiederum die Auflösung der Spannung nach sich ziehen würde). Das Happening wirkt durch die Schaffung eines asymmetrischen Netzes von Überraschungen ohne Klimax und Endpunkt; an die Stelle der Logik der meisten Kunstgattungen tritt damit die Alogik des Traumes. Im Traum ist der Zeitsinn ausgeschaltet. Ebenso im Happening. Da es weder Handlung noch kontinuierliche rationale Gedankengänge kennt, hat es keine Vergangenheit. Wie bereits der Name andeutet, ist die Zeit des Happenings die Gegenwart. Die gleichen Worte - wenn es überhaupt Worte gibt - werden wieder und wieder gebraucht; die Sprache ist auf ein Stammeln reduziert. Auch die Handlungen werden in ein und demselben Happening häufig wiederholt - eine Art gestischen Stammelns - oder in langsamen Bewegungen ausgeführt, damit auf diese Weise das Gefühl des Zeitstillstands vermittelt wird. Gelegentlich nimmt das ganze Happening Zirkelform an; es beginnt und schließt dann mit der gleichen Aktion oder Geste.
Eine Weise, auf die das Happening seine Unabhängigkeit von der Zeit zum Ausdruck bringt, ist seine intendierte Unbeständigkeit. Ein Maler oder Bildhauer, der Happenings macht, schafft damit nichts, was sich verkaufen ließe. Man kann kein Happening kaufen; man kann es nur unterstützen. Es wird an Ort und Stelle verbraucht. Das scheint das Happening zu einer Form des Theaters zu machen; denn auch eine Theateraufführung kann man nur besuchen, nicht aber mit nach Hause nehmen. Aber im Theater gibt es immerhin einen Text, eine vollständige "Partitur" für die Aufführung, die gedruckt ist, gekauft, gelesen werden kann und unabhängig von irgendeiner Aufführung existiert. Happenings sind auch dann nicht Theater, wenn wir unter Theater reine Schauspiele verstehen. Es trifft indes nicht zu, daß (wie einige Happening-Gänger meinen) Happenings auf der Stelle improvisiert werden. Sie werden über einen Zeitraum von einer Woche bis zu mehreren Monaten geprobt, wenngleich das Manuskript oder die Partitur auf ein Minimum beschränkt ist und gewöhnlich nicht mehr als eine Seite mit allgemeinen Anleitungen für Bewegungen sowie Beschreibungen von Materialien umfaßt. Eine Menge von dem, was während der Aufführung geschieht, ist zuvor in Probenarbeit von den Darstellern selber entwickelt oder choreographiert worden; und wenn das Happening an mehreren aufeinanderfolgenden Abenden wiederholt wird, so ist es wahrscheinlich, daß es, weit mehr als das beim Theater der Fall ist, von Aufführung zu Aufführung erheblich variiert. Aber wenn auch das gleiche Happening an einer Reihe von Abenden stattfinden kann, so ist es doch nicht dazu geschaffen, in ein Repertoire aufgenommen zu werden, das beliebig wiederholbar ist. Einmal nach einer Aufführung oder einer Serie von Aufführungen abgebrochen, wird es nie wieder hervorgeholt, niemals wieder aufgeführt. Zum Teil hängt das mit den bewußt auf die einmalige Gelegenheit zugeschnittenen Materialien zusammen, die in Happenings verwendet werden - Papier, Holzkisten, Blechdosen, Rupfensäcke, Nahrungsmittel, Wände, die für den jeweiligen Anlaß bemalt sind -, Materialien, die oft im Verlauf der Aufführung im wahrsten Sinne des Wortes verbraucht oder vernichtet werden.
Das Primäre im Happening sind die Materialien und ihre Modulationen wie hart und weich, schmutzig und sauber. Diese vorwiegende Beschäftigung mit Materialien, die das Happening näher an die Malerei als an das Theater heranzurücken scheint, kommt ebenso in dem Gebrauch oder der Behandlung der Personen als Materialien statt als "Charaktere" zum Ausdruck. Die Menschen im Happening werden oft so eingesetzt und ausstaffiert, daß sie wie Gegenstände wirken. Man steckt sie in Rupfensäcke, kunstvolle Papierhüllen, Schleier und Masken. (Oder die Person wird zum Stilleben gemacht wie in Kaprows Untitled Happening, das im März 1962 in dem im Keller gelegenen Heizungsraum des Maidman Theater stattfand und in dem eine nackte Frau auf einer Leiter lag, die über dem Teil des Raumes befestigt war, in dem das Happening vor sich ging.) Ein Großteil der Aktion der Happenings ist durch diesen Einsatz der Person als Gegenstand gekennzeichnet. Es wird ausgiebiger und intensiver Gebrauch von der physischen Person der Darsteller gemacht, was sowohl in solchen Aktionen, in die nur die jeweilige Person verwickelt ist (springen, fallen) als auch in solchen, in die diese Person andere Darsteller verwickelt (heben, jagen, werfen, stoßen, schlagen, kämpfen) zum Ausdruck kommt. Gelegentlich aber kommt es auch zu einem gemesseneren, mehr sinnlichen Gebrauch (liebkosen, drohen, anstarren) der darstellenden Person durch andere oder auch durch sie selber. Daneben werden Personen mit der Entdeckung oder dem leidenschaftlichen, wiederholten Gebrauch von Materialien um ihrer sinnlichen Eigenschaften statt ihres konventionellen Zwecks willen beschäftigt: man läßt Brotstücke in einen Eimer Wasserfallen, deckt den Tisch für eine Mahlzeit, rollt einen gewaltigen Papierreifen auf dem Fußboden entlang, hängt Wäsche auf . Jim Dines Car Crash der im November 1962 in der Reuben Gallery stattfand, endete damit, daß ein Mann Stücke farbiger Kreide gegen eine Wandtafel schmetterte und sie knirschend daran zermahlte. Einfache Vorgänge - wie Husten und Tragen, ein Mann beim Rasieren, eine Gruppe von Menschen beim Essen - werden bis zur dämonischen Raserei durch Wiederholung in die Länge gezogen.
Was die verwendeten Materialien betrifft, so mag hier angemerkt werden, daß man in einem Happening nicht wie im Theater zwischen Bühnenbild, Requisiten und Kostümen unterscheiden kann. Die Unterwäsche oder die Ramschladenreste, die ein Darsteller tragen mag, sind ebenso Teil der Gesamtkomposition wie die mit Farben beklecksten Pappmaché-Formen, die aus der Wand ragen, oder der Plunder, der auf dem Boden herumliegt. Anders als im Theater und ebenso wie auf einigen modernen Bildern haben die Gegenstände nicht ihren festen, vorbestimmten Platz, sondern sind umhergestreut oder zu Haufen zusammen geschoben. Der Raum, in dem das Happening stattfindet, kann am ehesten als "environment" ["Umgebung"] bezeichnet werden, und dieses "environment", gewöhnlich, schmutzig, unordentlich und.bis zum äußersten überladen, ist aus Materialien zusammengebaut, die verhältnismäßig zerbrechlich sind - aus Papier, Stoff und anderen Dingen, die wegen ihres schlechten, schmutzigen und bedenklichen Zustands gewählt werden. Die Happenings bringen dadurch (auf reale und nicht nur auf ideologische Weise) einen Protest gegen die museale Vorstellung von der Kunst zum Ausdruck; gegen die Idee, daß die Aufgabe des Künstlers darin besteht, Dinge zu machen, die gehegt und gepflegt werden. Man kann ein Happening nicht aufbewahren und man kann es nicht mehr hegen als einen Feuerwerkskörper, der einem gefährlich dicht vor der Nase explodiert.
Man hat das Happening als das "Theater der Maler" bezeichnet, was - abgesehen von der Tatsache, daß die Mehrzahl derer, die Happenings veranstalten, Maler sind - besagt, daß sie als lebende Bilder oder genauer als "lebende Kollagen" oder "zum Leben erwecktes trompe L`aeil" gekennzeichnet werden können. Überdies können die Happenings als logische Weiterentwicklung der New Yorker Malerschule der fünfziger Jahre charakterisiert werden. Das gigantische Ausmaß vieler der Bilder, die im vergangenen Jahrzehnt in New York gemalt wurden und die auf die Überwältigung und Herausforderung des Betrachters abzielen, sowie die immer stärkere Verwendung von anderen Materialien als Farbe, die zunächst an der Leinwand haften und dann aus ihr hervortreten, deuten auf die latente Tendenz dieser Art der Malerei hin, sich in eine dreidimensionale Form hineinzuprojizieren. Genau diesen Weg schlugen einige Maler ein. Der entscheidende nächste Schritt wurde um die Mitte und gegen Ende der fünfziger Jahre von Raurschenberg, Kaprow und anderen getan, die eine neue Form, "Montagen" ("assemblages") genannt, entwickelten, eine Misichung aus Malerei, Kollage und Skulptur, in der eine sardonische Vielfalt von Materialien - wie Autonummernschilder, Zeitungsausschnitte, Glasstücke, Maschinenteile und die Socken des Künstlers - Verwendung finden. Von dieser Montage bis zum ganzen Raum, zum "environment" ist nur noch ein Schritt. Der letzte Schritt, das Happening, besteht einfach darin, daß Menschen in diese Umgebung gestellt werden und das Ganze in Bewegung gesetzt wird. Es steht außer Zweifel, daß sich ein Gutteil des Stils der Happenings - der Gesamteindruck der Ungeordnetheit, die Vorliebe für den Einbau gleichsam vorgefertigter Materialien, die keinerlei künstlerisches Prestige haben, insbesondere des Abfalls der großstädtischen Zivilisation - auf die Erfahrung und den Einfluß der New Yorker Malerei zurückführen läßt. (Es sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß Kaprow zum Beispiel der Meinung ist, städtischer Abfall sei kein notwendiges Element der Happening-Form, und Happenings könnten ebensogut in pastoraler Umgebung komponiert und durchgeführt werden, unter Verwendung der "reinen" Materialien der Natur.
So bietet die Malerei eine Möglichkeit zur Erklärung des Erscheinungsbildes und einiger stilistischer Merkmale des Happenings. Seine Form freilich läßt sich auf diese Weise nicht erklären. Um für sie eine Erklärung zu finden, müssen wir über die Malerei hinausschauen und unser Augenmerk insbesondere auf den Surrealismus richten. Unter Surrealismus verstehe ich hier nicht jene spezielle Bewegung in der Malerei, die durch Bretons Manifest von 1924 ins Leben gerufen wurde und mit der wir Namen wie Max Ernst, Dali, Chirico, Magritte und so weiter verbinden. Ich meine vielmehr eine bestimmte Erlebnisweise (sensibility), die in allen Kunstgattungen des 20. Jahrhunderts anzutreffen ist. Es gibt eine surrealistische Tradition im Theater, in der Malerei, in der Dichtung, im Film, in der Musik und im Roman; selbst in der Architektur gibt es, wenn auch keine Tradition, so doch zumindest einen Kandidaten: den spanischen Architekten Gaudi. Die Gemeinsamkeit der surrealistischen Tradition in all diesen Kunstgattungen liegt in dem Gedanken der Zerstörung konventioneller Bedeutungen und der Schaffung neuer Bedeutungen oder GegenBedeutungen durch radikale Nebeneinanderstellung (das "Kollage-Prinzip"). Nach Lautréamont ist Schönheit "die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Sektionstisch". So verstanden ist Kunst offenkundig beseelt von Aggression: Aggression gegen die mutmaßliche Konventionalität ihres Publikums und vor allem Aggression gegen das Medium selbst. Die surrealistische Erlebnisweise zielt auf ein Schockieren durch die Technik des radikalen Nebeneinanders ab. Selbst eine der klassischen Methoden der Psychoanalyse, die freie Assoziation, kann als eine Entwicklung des surrealistischen Prinzips des radikalen Nebeneinanders gedeutet werden. Indem sie jede unvorbereitete Erklärung des Patienten als relevant betrachtet, zeigt die Freudsche Deutungstechnik, daß sie auf der gleichen Logik des Zusammenhanges hinter dem Widerspruch basiert, die wir aus der modernen Kunst kennen. Dieser Logik folgte auch der Dadaist Kurt Schwitters, als er seine glänzenden Merz-Konstruktionen in den frühen zwanziger Jahren aus bewußt unkünstlerischen Materialien komponierte; eine seiner Kollagen zum Beispiel ist aus den Funden zusammengesetzt, die er in den Gossen eines einzigen städtischen Wohnblocks machte. Das erinnert an Freuds Beschreibung seiner Methode als ein Erraten von Sinnzusammenhängen aus dem Kehrichthaufen unserer Beobachtungen, aus der Kollation selbst der unwichtigsten Details. Als Zeiteinheit ist die Stunde, die der Psychoanalytiker täglich seinem Patienten widmet, nicht weniger zufällig als die Raumeinheit des einen Wohnblocks, aus dessen Gossen der Kehricht gesammelt wurde; alles hängt von dem schöpferischen Ereignis des Arrangements und der spontanen Erkenntnis ab. Auch in vielen der Gebrauchsgegenstände der modernen Stadt könnte man eine Art unfreiwilligen Kollageprinzips entdecken: die brutale Disharmonie von Größe und Stil bei vielen Gebäuden, das wilde Nebeneinander von Ladenschildern, das schreiende Layout der modernen Zeitung und so weiter.
Die Kunst des radikalen Nebeneinanders kann indes verschiedenen Zwecken dienen. Ein Großteil des Inhalts des Surrealismus diente dem Witz - entweder dem köstlichen Witz als solchem über das, was verrückt, kindisch, überspannt oder verbohrt ist, oder der Satire. Dies im besonderen ist das Ziel des Dadaismus und des Surrealismus, wie er sich auf der Internationalen Surrealistenausstellung im Januar 1938 in Paris und auf den Ausstellungen von 1942 und 1960 in New York darbot. Im zweiten Band ihrer Memoiren beschreibt Simone de Beauvoir das Geisterhaus von 1938 so:
"Am Eingang in einem regennassen Taxi - eine Erfindung Dalis - ein blondes Mannequin unter schneckenüberzogenen Endivien und Kopfsalatstauden. Weitere Drahtpuppen, gekleidet und entkleidet von Man Ray, Max Ernst, Maurice Henry, bevölkerten die rue surréaliste. Besonders angetan hatte es uns Massons Mannequin, dessen Gesicht in einem Vogelkäfig gefangen und mit einem Gedanken geknebelt war. Der Hauptsaal, den Marcel Duchamp eingerichtet hatte, stellte eine Grotte mit einem Teich und vier um ein Glutbecken angeordneten Betten dar; die Decke bestand aus Kohlensäcken. Es duftete nach Brasilkaffee, und die Dinge tauchten aus einer sorgfältig dosierten Dunkelheit auf. Ein Gedeck aus Fell, ein Hocker aus Frauenbeinen; aus Türen, Mauern, Vasen, überall griffen Hände hervor. Ich glaube nicht, daß der Surrealismus direkten Einfluß auf uns ausgeübt hat; aber er hat die Luft durchsetzt, die wir atmeten. So hatten die Surrealisten zum Beispiel den Flohmarkt in Mode gebracht, wo ich oft mit Sartre und Olga meine Sonntagnachmittage verbrachte." Der letzte Satz dieses Zitats ist besonders interessant, da er in Erinnerung ruft, wie das surrealistische Prinzip eine bestimmte Art witziger Vorliebe für die heruntergekommenen, faden, altmodischen Gegenstände der modernen Zivilisation evoziert hat, den Gefallen an einer gewissen Art von leidenschaftlicher Un-Kunst, die man "camp" nennt. Die mit Pelzwerk umrandete Teetasse, das aus den Kappen von Pepsi-Cola-Flaschen gefertigte Porträt, das fahrbare Toilettenbecken sind Versuche, Gegenstände zu schaffen, in denen eine Art von Witz steckt, der den geistig differenzierten Beschauer, dessen Augen vom "Camp" geöffnet sind, bei dem Genuß von Cecil B. DeMille-Filmen, Comic-Büchern und Jugendstil-Lampenschirmen zugute kommt. Die wichtigste Vorbedingung für solchen Witz ist, daß die Objekte weder in den Bereich der hohen Kunst noch in den des guten Geschmacks im landläufigen Sinne gehören; je geringer das Material geschätzt ist, je banaler die zum Ausdruck gebrachten Gefühle sind, desto besser.
Doch das surrealistische Prinzip kann auch anderen Zwecken dienen als dem Witz, sei es dem desinteressierten Witz für hohe Ansprüche oder dem polemischen Witz der Satire. Es kann ernsthafter begriffen werden, therapeutisch, als Mittel der Umschulung der Sinne (in der Kunst) oder des Charakters (in der Psychoanalyse). Und schließlich kann es in den Dienst des Entsetzens gestellt werden. Wenn der Sinn der modernen Kunst die Entdeckung der Logik des Traumes unterhalb der Logik des täglichen Lebens ist, dann dürfen wir von der Kunst, die die Freiheit des Träumens besitzt, erwarten, daß sie ihren emotionalen Bereich hat. Es gibt witzige Träume, ernste Träume, und es gibt Alpträume.
Die Beispiele für die Anwendung des surrealistischen Prinzips zur Erzeugung von Entsetzen können leichter in Kunstgattungen mit einer dominierenden figurativen Tradition - wie Literatur und Film-als in der Musik (Varèse, Stockhausen, Cage) oder der Malerei (de Kooning, Bacon) veranschaulicht werden. In der Literatur denkt man an Lautréamonts Maldoror und Kafkas Erzählungen und Romane und an die Morgue-Gedichte Gottfried Benns. Auf dem Gebiet des Films lassen sich Un chien Andalou (Ein andalusischer Hund) und L'âge d'or (Das goldene Zeitalter) von Bufruel und Dalí und aus jüngerer Zeit der amerikanische Kurzfilm A Movie von Bruce Connor sowie gewisse Passagen aus den Filmen Hitchcocks, H. G. Clouzots und Kon Ichikawas anführen. Das tiefste Verständnis für die Möglichkeiten, das surrealistische Prinzip für die Zwecke des Schreckens nutzbar zu machen, begegnet in den Arbeiten Artauds. In seiner Essay-Sammlung Le théâtre et son double beabsichtigt Artaud nichts Geringeres als eine vollständige Zurückweisung des modernen westlichen Theaters mit seinem Kult der Meisterwerke, seiner Vorliebe für den geschriebenen Text (das Wort) und seiner zahmen Emotionalität. Artaud schreibt: "Das Theater muß sich zum Gleichberechtigten des Lebens machen - nicht des persönlichen Lebens, jenes individuellen Aspekts des Lebens, in dem Charaktere triumphieren, sondern des befreiten Lebens, das die menschliche Individualität hinwegfegt."
Diese Überwindung der Bürden und Grenzen der persönlichen Individualität - ebenfalls ein verheißungsvolles Thema bei D. H. Lawrence und Jung - wird erreicht durch den Rückgriff auf die vorwiegend kollektiven Inhalte der Träume. Nur in unseren Träumen stoßen wir allnächtlich aus den Untiefen dessen, was Artaud verächtlich den "psychologischen und sozialen Menschen" nennt, in tiefere Schichten vor. Aber träumen bedeutet für Artaud nicht einfach Dichtung, Phantasie; es bedeutet Gewalttätigkeit, Wahnsinn, Alp. Die Verbindung mit dem Traum wird zwangsläufig zu dem führen, was Artaud im Titel zweier seiner Manifeste als das "Theater der Grausamkeit" bezeichnet. Das Theater muß "den Betrachter mit den wahrheitsgemäßen Materialisationen der Träume versorgen, in denen seine Lust am Verbrechen, seine erotische Besessenheit, seine Roheit, seine utopische Auffassung von Leben und Dingen, sogar sein Kannibalismus sich nicht gefälscht und scheinhaft darbieten, sondern unmittelbar aus seinem Innern ausströmen... Das Theater muß, wie die Träume, blutig und unmenschlich sein."
Diese Anleitungen, die Artaud in Le thétâre et son double bietet, sagen besser als alles andere, was Happenings sind. Artaud deckt den Zusammenhang zwischen drei typischen Zügen des Happenings auf: zwischen seiner überpersönlichen oder unpersönlichen Behandlung der Personen, seiner Betonung von Schaustellung und Geräusch bei gleichzeitiger Mißachtung des Wortes und dem eingestandenen Ziel des Angriffs auf das Publikum.
Die Vorliebe für das Gewalttätige in der Kunst ist kaum ein neues Phänomen. Wie Ruskin im Jahre 1880 im Verlauf einer Attacke gegen "den modernen Roman" bemerkte (seine Bei- spiele sind Guy Mannering und Bleak House (Bleakhaus!), sind die Lust am Phantastischen, Überspannten, Verworfenen und die Bereitwilligkeit, sich schockieren zu lassen, vielleicht die bemerkenswertesten Charakteristika des modernen Publikums. Dies treibt den Künstler unweigerlich zu immer größeren und intensiveren Anstrengungen, eine Reaktion in seinem Publikum zu provozieren. Die Frage ist nur, ob diese Reaktion immer durch Terrorisierung bewirkt werden muß. Es scheint der geheime Konsens jener, die Happenings veranstalten, daß andere Arten der Erregung (zum Beispiel die sexuelle Erregung) weniger wirkungsvoll sind und daß die letzte Bastion des emotionalen Lebens die Angst ist. Doch es ist überdies interessant zu sehen, wie diese Kunstform, die darauf angelegt ist, das moderne Publikum aus seiner behaglichen Gefühlstaubheit aufzuscheuchen, mit Bildern betäubter Personen arbeitet, die in einer Art Zeitlupendisjunktion miteinander agieren, und wie sie uns ein Handlungsbild vermittelt, das in erster Linie durch Umständlichkeit und Unwirksamkeit gekennzeichnet ist. An diesem Punkt treffen sich die surrealistischen Schreckenskünste mit dem tiefsten Sinn der Komödie: der Behauptung der Unverwundbarkeit. Im Herzen der Komödie herrscht emotionale Taubheit. Was uns erlaubt, über schmerzliche und groteske Ereignisse zu lachen, ist die Tatsache, daß wir bemerken, wie die Menschen, die von diesen Ereignissen betroffen sind, im Grunde unverhältnismäßig schwach reagieren. Wie sehr sie auch schreien und toben, gen Himmel schimpfen oder ihr Unglück beklagen mögen: das Publikum weiß, daß sie im Grunde nicht allzuviel fühlen. Die Protagonisten der großen Komödie haben sämtlich etwas von einem Automaten oder Roboter an sich. Dies ist das Geheimnis so verschiedener Beispiele des Komödienhaften wie Aristophanes' Die Wolken, Gulliver's Travels (Gullivers Reisen), Tex Averys Cartoons, Candide, Kind Hearts and Coronets (Adel verpflichtet), Buster Keatons Filme, Ubu Roi (König Ubu) und Goon Show. Das Geheimnis der Komödie ist die leere, die übertriebene oder die verfehlte Reaktion, die eine Parodie des wirklichen Betroffenseins ist. Die Komödie arbeitet, ebenso wie die Tragödie, mit einer Stilisierung der gefühlsmäßigen Reaktion. Im Falle der Tragödie geschieht das durch eine Überhöhung der Gefühlsnorm, im Falle der Komödie durch eine, gemessen an den Normen des Fühlens, zu schwache oder falsche Reaktion.
Der Surrealismus ist vielleicht die äußerste Konsequenz der Idee der Komödie, die den ganzen Bereich vom Witz bis zum Schrecken einbezieht. Er ist eher "komisch" als "tragisch"; denn er betont (in all seinen Spielarten - die Happenings eingeschlossen) die äußerste Beziehungslosigkeit, die das hervorstechende Merkmal der Komödie ist, so wie die "Verwandtheit" Thema und Quelle der Tragödie ist. Ich und andere Menschen im Publikum lachen nicht selten, wenn wir ein Happening erleben. Ich glaube nicht, daß dies seinen Grund einfach darin hat, daß wir durch wilde und absurde Handlungen aus der Fassung gebracht und nervös gemacht werden. Ich glaube vielmehr, wir lachen, weil das, was in den Happenings vor sich geht, im tiefsten Sinne komisch ist. Dieser Umstand macht die Sache freilich nicht weniger erschreckend. Selbst in den furchtbarsten der modernen Katastrophen und Greuel ist etwas, das uns zum Lachen brächte, wenn nur unsere soziale Pietät und unser hoch konventionelles Gefühl für den Ernst der Dinge es erlaubten. Die moderne Erfahrung als solche hat etwas Komisches, etwas von einer dämonischen, nicht von einer göttlichen Komödie, und zwar genau in dem Maße, in dem diese moderne Erfahrung durch sinnlose, mechanisierte Zusammenhanglosigkeit gekennzeichnet ist.
Die Komödie ist nicht weniger komisch, wenn es in ihr einen Bestraften gibt. Wie die Tragödie, so braucht auch die Komödie stets einen Sündenbock, einen Menschen, der bestraft und ausgestoßen wird aus der sozialen Ordnung, die mimetisch im Schauspiel repräsentiert wird. Was in den Happenings geschieht, entspricht nur dem, was Artaud für das Schauspiel fordert: die Bühne, das heißt die Distanz zwischen Zuschauer und Darsteller wird aufgehoben und "der Zuschauer körperlich einbezogen". Im Happening ist das Publikum der Sündenbock.